Griechenland Europas No-Go-Area für Migranten

Von Carolina Drüten
Korrespondentin für Türkei, Griechenland, Balkan

22.06.2023 10:02 Uhr | Lesedauer: 5 Minuten

Die Bootskatastrophe vor der griechischen Küste hat eine Debatte über die harte Migrationspolitik des Landes ausgelöst. Der Mann, der sie vorangetrieben hat, stellt sich am Sonntag zur Wiederwahl - und kann auf die Gunst des Volkes zählen. Denn das Trauma von 2015 sitzt tief. Quelle: REUTERS; Yorgos Karahalis/AP; Montage: Infografik WELT

War es eine Massenpanik? Oder kenterte das Boot bei einem Abschleppversuch der Küstenwache? Rund eine Woche nach dem schlimmen Unglück vor Griechenlands Küste ist noch immer nicht geklärt, wie ein Schiffskutter mit bis zu 700 Menschen an Bord sinken konnte, ohne dass jemand eingriff. Vermutlich mehrere hundert Migranten verloren ihr Leben. Der Vorfall hat eine neuerliche Debatte über die griechische Migrationspolitik ausgelöst.

Ein von der griechischen Küstenwache veröffentlichtes Bild des überfüllten Bootes
Quelle: AFP

Denn unter Kyriakos Mitsotakis, der bis Ende Mai Regierungschef war und es nach der Wahl am kommenden Sonntag den Umfragen zufolge wieder werden dürfte, hat sich die griechische Migrationspolitik zu einer der härtesten Europas gewandelt. Trotzdem - oder gerade deswegen - kann Mitsotakis auf die Gunst des Volkes zählen.

Schon auf dem Höhepunkt der europäischen Migrationskrise vor rund acht Jahren stand Griechenland im Zentrum der Ereignisse. Allein im Oktober 2015 kamen mehr als 200.000 Menschen ins Land. Im Vergleichsmonat des vergangenen Jahres betrugen die Ankünfte gerade einmal ein Prozent dessen.

"Wir hatten viele Einsätze, aber das ist der schwierigste von allen"

Es ist eines der schwersten Bootsunglücke mit Flüchtlingen im Mittelmeer der letzten Jahre. Ein Boot mit mehreren hundert Menschen an Bord kentert vor der Küste Griechenlands. Reporterin Greta Wagener konnte mit Georgios Chatzigeorgiou, einem Helfer des Roten Kreuzes, sprechen.
Quelle: WELT/Carsten Hädler

Das hat zwei Gründe. Zum einen schlossen die Europäische Union und die Türkei, von wo die meisten Menschen einreisten, mit dem Flüchtlingsdeal ein Abkommen zur Migrationskontrolle. Zum anderen hat Griechenland ein System etabliert, das die meisten Migrationsexperten als illegal bezeichnen: oftmals brutale Zurückweisungen von Migranten, ohne dass diese einen Asylantrag stellen können.

Dazu zählen sogenannte Pushbacks auf offener See, bei denen die griechische Küstenwache die Schlauchboote zurück in türkische Gewässer drängt. Es wird aber auch von Praktiken berichtet, bei denen Migranten, die es bereits auf griechische Inseln geschafft haben, von Vermummten zusammengetrieben und auf dem offenen Meer ausgesetzt werden. Gewalt ist demnach eher die Regel als die Ausnahme.

Griechenland setzt auf Abschreckung

Wer es doch nach Griechenland schafft, der ziehe häufig weiter, erklärt die renommierte Migrationsexpertin Angeliki Dimitriadi, Non-Resident Research Fellow beim Institut für globale öffentliche Politik (GPPi). Viele Migranten in Griechenland "versuchen sehr schnell, in andere EU-Mitgliedsstaaten zu gelangen, weil sie hier kaum überleben können", sagt sie.

"Wir reden nicht einmal von Integration. Sondern vom grundsätzlichen Überleben", so die Expertin. Anerkannte Flüchtlinge unterstützt der Staat weder finanziell noch mit einer Wohnung. Viele ziehen nach Deutschland weiter, wo sie erneut einen Asylantrag stellen. Zurückgeschickt werden sie nicht, weil die Bedingungen in Griechenland so schlecht sind.

Drei Wochen nach dem Asylbescheid steigen sie in den Flieger nach Deutschland

Zehntausende Flüchtlinge kamen dieses Jahr nach Deutschland - nachdem sie bereits in Griechenland Asyl erhalten hatten. Die Bundesrepublik darf sie nicht zurückschicken. Unsere Reporter sind dem Problem in Athen auf den Grund gegangen. (Video mit Transkript)
Quelle: WELT

Gewalt an den Grenzen, schlechte Behandlung der Flüchtlinge im Inland - und kein breiter öffentlicher Aufschrei. "Die Mehrheit der Bevölkerung ist sich der Pushbacks und anderer Praktiken sehr wohl bewusst", sagt Dimitriadi. Doch das Trauma von 2015 sitzt tief. Mitten in der Finanzkrise wurde Griechenland auch zum Zentrum der Flüchtlingskrise. Und fühlte sich von Europa alleingelassen. "Viele Griechen halten die Politik der Regierung für eine notwendige Maßnahme oder zumindest für eine angemessene Reaktion, um eine Wiederholung von 2015 zu vermeiden", sagt Dimitriadi.

Auch wenn Griechenland ein Hauptziel für Menschen bleibt, die aus Afghanistan, Pakistan oder Syrien in die EU zu gelangen versuchen, gibt es bereits Versuche, die Route zu umgehen. Manche Boote, die aus der Türkei ablegen, nehmen direkt Kurs auf Italien, obwohl der Weg viel länger und gefährlicher ist. Auch der vor rund einer Woche gekenterte Kutter, der offenbar aus der libyschen Hafenstadt Tobruk kam, hatte anfangs Italien angesteuert, obwohl Griechenland von dort aus gesehen näher liegt.

Die nachfolgende Katastrophe scheint den Diskurs nicht grundsätzlich verändert zu haben - weder in Griechenland noch auf EU-Ebene. Dimitriadi sagt, statt Forderungen nach legalen Asylwegen würden nun vor allem Rufe nach strengerer Grenzpolitik laut. "Das Ausmaß des Unglücks ist niederschmetternd. Aber letztendlich wird es nicht viele dazu gebracht haben, über realistische, vernünftige und menschenwürdige Alternativen nachzudenken", sagt sie. "Eher hat es das Gegenteil bewirkt."

Nachdem der Kutter gesunken war, ruhte der Wahlkampf in Griechenland drei Tage lang. Am Wochenende trat Mitsotakis wieder auf - und wehrte sich gegen Vorwürfe, seine Regierung trage Mitverantwortung an dem Unglück. Die Grenzpolitik sei "fair und strikt". Illegale Grenzübertritte seien infolgedessen um 90 Prozent zurückgegangen. Über den Preis, den diese Politik fordert, schwieg er.

Sieben Stunden ohne Hilfe

Zwar ist Migration derzeit nicht unter den wichtigsten Themen für die griechischen Wähler. Sie sorgen sich vor allem um die Wirtschaft, Arbeitsplätze und die Sicherheitssituation mit dem Nachbarland Türkei. "Es herrscht eine gewisse Erschöpfung bezüglich der Migration und das Gefühl, dass die EU und die Mitgliedstaaten ihrer Verantwortung gegenüber Griechenland nicht ausreichend gerecht geworden sind", sagt Dimitriadi. Doch unter den Mitsotakis-Wählern gelte dessen Grenzpolitik "offensichtlich als ziemlich effektiv".

Eine offene Frage bleibt: Welche Rolle spielte die griechische Küstenwache im Falle des vor einer Woche gekenterten Schiffs? In Medienberichten heißt es unter Berufung auf Aussagen Überlebender, das Patrouillenboot der Küstenwache habe den Kutter angeleint, als dieser zwischenzeitlich stoppte, und Richtung Italien gezogen. Auch soll der Kutter bereits seeuntüchtig gewesen sein - dennoch sei Hilfe ausgeblieben.

Die Küstenwache bestreitet beide Vorwürfe. Ihrer Schilderung zufolge habe eine Massenpanik das Kentern zufolge gehabt, weil die Maschinen wiederholt ausgefallen seien. Das Boot habe aber zuvor Kurs gehalten. Die Menschen auf dem Schiff sollen Hilfe ausgeschlagen haben: Man wolle nach Italien - nicht nach Griechenland. Auch an dieser Version gibt es Zweifel. Einem Bericht der britischen BBC zufolge bewegte sich der Kutter sieben Stunden nicht von der Stelle. Offenbar ohne, dass die griechische Küstenwache eingriff.


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